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Titel
Werkstatt der Demokratie. Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49


Autor(en)
Engehausen, Frank
Erschienen
Frankfurt am Main 2023: Campus Verlag
Anzahl Seiten
355 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Theo Jung, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Die deutsche Revolution von 1848/49 wird im 175-jährigen Jubiläumsjahr aktuell mit prominenter staatlicher Unterstützung als „Aufbruch der Demokratie“ gewürdigt. Im Verhältnis zur Fülle an Gedenkveranstaltungen, Museumsausstellungen, Podiumsdiskussionen und Demokratiefestivals ist die Zahl der neuen fachwissenschaftlichen Publikationen zum Thema bisher vergleichsweise gering. Eine prominente Ausnahme ist allerdings das vorliegende Buch des Heidelberger Historikers Frank Engehausen, das eine ebenso gründliche wie vielseitige historische Analyse der Frankfurter Nationalversammlung unternimmt. Den Anspruch auf eine vollständige Überblicksdarstellung zum ersten gesamtdeutschen Parlament weist der Autor anfangs ausdrücklich zurück. Vielmehr geht es ihm darum, den Stellenwert des Paulskirchenparlaments in der Revolution und in der deutschen Demokratiegeschichte des 19. Jahrhunderts auszuloten: „Welche Impulse gingen für die Etablierung einer demokratischen Praxis von einem Parlament aus, in dem die Demokraten eine Minderheit bildeten und das statt einer republikanischen eine konstitutionell-monarchische Verfassungsordnung errichten wollte“ (S. 14)?

Diese Zielsetzung schlägt sich in einer systematischen Gliederung nieder, in der die Frage nach der titelgebenden „Werkstatt der Demokratie“ auf zwei Ebenen untersucht wird. Im ersten Teil erörtert Engehausen die parlamentarische Praxis der Versammlung und fragt, inwiefern diese selbst nach demokratischen Prinzipien arbeitete. Die vielfältigen Ansätze der neueren Parlamentsgeschichte aufgreifend berücksichtigt er dabei neben dem Inhalt der Debatten etwa auch den organisatorischen Verhandlungsablauf, den Versammlungsraum, die Abgeordneten und Fraktionen sowie die Beziehungen des Parlaments zu den Regierungen und zur breiteren Öffentlichkeit. So entsteht ein reiches Panorama, wobei es dem Autor durch die Fokussierung auf herausragende Einzelpersonen und die sehr großzügige Einbindung längerer Quellenzitate aus den Verhandlungsprotokollen und den Berichten berühmter Zeitzeugen gelingt, auch die technischen Aspekte der Parlamentsarbeit in eine anschauliche Erzählform zu gießen. Dazu passen auch die reichlich eingestreuten Abbildungen, darunter auch viele der berühmten Karikaturen, die das Bild der Nationalversammlung bis heute prägen.

Der zweite Teil der Arbeit steht unter der Überschrift „Herausforderungen der Demokratie“ und ist der Frage gewidmet, wie sich die Entscheidungen des Parlaments „auf die Durchsetzung demokratischer Prinzipien im weiteren Verlauf der deutschen Geschichte auswirkten“ (S. 15). In Teilabschnitten über Freiheit, Gleichheit, Nationalstaat und Volkssouveränität werden vier zentrale Streitpunkte der 1848er Revolution aufgegriffen. Neben den unterschiedlichen Positionen der Fraktionen und dem Verlauf und Ausgang der Verhandlungen steht dabei immer die Frage im Vordergrund, wie sich die Beschlüsse der Nationalversammlung in die langfristige Demokratiegeschichte im deutschen Raum einordnen lassen. Dabei setzt sich Engehausen zum Ziel, einerseits die „epochalen Errungenschaften“ dieses Parlaments wie das allgemeine Männerwahlrecht, die Gewaltenteilung und die Grundrechte zu würdigen, andererseits aber auch kritisch auf die Herausforderungen einzugehen, für die die Nationalversammlung keine zukunftsträchtigen Lösungen fand, wie etwa die „Kombination von Macht- und Kulturstaatkonzepten oder de[n] Umgang mit nationalen Minderheiten“ (S. 15).

Engehausens Urteile fallen im Einzelnen unterschiedlich, aber stets differenziert aus. Bei der Abschaffung der Todesstrafe etwa griff die Nationalversammlung ihm zufolge „dem allgemeinen Trend weit voraus“ (S. 186), wurde sie im westdeutschen Raum doch erst 100 Jahre, im ostdeutschen sogar erst 140 Jahre später abgeschafft. In der Adelsfrage fand die Versammlung eine Kompromisslösung, indem sie zwar die Standesprivilegien und Titel aufhob, den Adel aber „noch ein Stück weit schonte“ (S. 218), indem man ihm gestattete, das „von“ im Namen zu behalten. Allerdings seien, so Engehausen, letztlich doch „eher die Verdienste als die Versäumnisse“ (S. 218) der in diesem Punkt gefassten Beschlüsse hervorzuheben, da auch die Weimarer Nationalversammlung diesen definitiven Schritt nicht gewagt und den Adeligen neben dem Namen mit „von“ sogar noch ihre Titel (als Namensbestandteil) eingeräumt habe. Besondere Aufmerksamkeit widmet der Autor den Grundrechten („eine goldene Mitgift für [das spätere] Deutschland“ (S. 206), zit. n. Veit Valentin), der verfassungsmäßigen Stellung der Legislative („ihrer Zeit ein ganzes Stück voraus“ (S. 274)) und dem Wahlgesetz („sehr modern“ (S. 236)).

Im zweiten Teil treten die praxeologischen und kulturhistorischen Aspekte, die im ersten eine zentrale Rolle spielen, zugunsten einer im engeren Sinne verfassungsgeschichtlichen Perspektive in den Hintergrund. Diese gipfelt am Schluss der Arbeit in einem Fazit, das unter dem Titel „Was fehlte und was blieb?“ (S. 313–319) den Fragen nachgeht, ob die Paulskirchenverfassung überhaupt politisch lebensfähig gewesen wäre und wie sie letztlich zu beurteilen ist. Die erstgenannte, kontrafaktische Frage wird von Engehausen vorsichtig bejaht. Er hebt hervor, dass das Scheitern der Revolution durch das Wegfallen einer ganzen Generation von reformorientierten Akteuren, die entweder ins Exil gingen oder sich enttäuscht aus der Politik zurückzogen, eine schmerzliche „Leerstelle in der deutschen Geschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ (S. 319) hinterließ. Andererseits weist er aber ausdrücklich darauf hin, dass auch eine erfolgreiche Revolution keine Generallösung für alle vorhandenen Strukturprobleme der deutschen politischen und sozialen Entwicklung geboten hätte.

Die Frage nach der verfassungsgeschichtlichen Einordnung bildet letztlich das analytische Rückgrat des Buchs. Wie die oben genannten Beispiele zeigen, erfolgt sie dabei stets unter einem doppelten Gesichtspunkt. Zum einen werden die Leistungen des Paulskirchenparlaments durch den diachronen Vergleich mit anderen Wendepunkten der deutschen Verfassungsgeschichte (1867/71, 1918/19, 1948/49) profiliert. Zum anderen treten historische Verlaufsargumente hinzu, wie etwa die, dass mit dem Wahlgesetz und dem Grundrechtskatalog „Standards gesetzt wurden, die nachfolgende Generationen nicht ignorieren konnten“ (S. 314) und dass es „Jahrzehnte praktische Erfahrungen mit den Unwägbarkeiten und Ungerechtigkeiten des Mehrheitswahlverfahrens“ gebraucht habe, bis sich die Einsicht durchsetzen konnte, dass die Proportionalwahl „das bessere Verfahren“ (S. 239) sei. In solchen Formulierungen tritt der narrative Subtext des Buchs hervor. Die Demokratiegeschichte erscheint als historischer Lernprozess, in den einzelne Momente mit Blick auf ihre jeweilige Distanz zum Telos als „schon“ oder „noch nicht“ eingereiht werden. Der normative Fluchtpunkt dieses Narratives liegt in einer Gegenwart, in der die Demokratie nach langem und mühsamem Ringen schließlich verwirklicht worden ist, sodass man von diesem Gipfel nun selbstbewusst über historische Vorläufer und zeitgenössische Abweichungen urteilen kann. Bei allem Insistieren auf Ambivalenzen, Widersprüchen, alternativen Möglichkeiten und Kontingenzen reiht sich das Buch damit in eine Perspektive ein, die sich im Jubiläumsjahr auch gedächtnispolitisch als äußerst wirkmächtig erwiesen hat. In diesem Sinne wird es sicher eine verdiente Würdigung erfahren, die durch die Aufnahme in das Sonderausgabenprogramm der Zentralen für politische Bildung schon vorgezeichnet ist. Darüber hinaus ist „Werkstatt der Demokratie“ aber auch deswegen eine breite Leserschaft zu wünschen, da es dem Autor durch eine gelungene Verschränkung von plastischer Erzählung und differenzierter Analyse gelingt, ein zentrales Stück deutscher Verfassungsgeschichte auf neue Weise zu erschließen.

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